Worte

Über das Verlieben

Was ist das eigentlich mit dem „Verlieben“?
Ein Zustand voller Herzensglück und Lebensfreude. Ungebremst. Eine schwungvolle Symptomatik, die uns mitreißt. Vorausgesetzt, wir lassen es zu… das Gefühls-Chaos, das sich so wärmend schön anfühlt und uns mitreißt.

Aber „verlieben“…! Meist bedeutet doch die Silbe „ver“ so gar nichts Gutes. Wenn ich mich verlaufe, hab ich ein echtes Problem. Wenn ich etwas verliere, erst recht – oder auch, wenn ich zum Beispiel Zeit oder Geld vergeude – vielleicht sogar beides.

Etwas Verfremdetes entzieht sich meinem prüfenden Blick in den Nebel einer möglichen Lüge und verändert die Wahrhaftigkeit meiner Wahrnehmung. Was ich verleugne, wird mich vermutlich eines Tages mit doppelter Kraft einholen und seinen – wie auch immer gearteten – Tribut von mir fordern. Noch schlimmer, ich könnte mich verletzen an Körper oder gar Seele… und verletzte Gefühle kennen wir alle. Die will keiner!

Blumen und Zeit vergehen. Einfach so, da kann man gar nichts machen.

Wenn Du verschläfst, könnte Dein Chef sauer werden… oder Dein Ehepartner, sollte der Hochzeitstag vergessen worden sein von Dir! Wenn Dein Schiff versinkt, wird es sehr schnell sehr ungemütlich und nass. Und sollte ich mich verschreiben, kann es zu amüsanten oder gar kleinlichen peinlichen Varianten eines Wortes kommen… wenn ich mich verspreche, könnte es meine wahre Intuition offenbaren und das ist manchmal ja auch nicht so schlau.

Das Versehen ist unbeabsichtigt und kann so oder so ausgehen; ein eher diffuser Zustand mit eventuell ungewolltem Kontrollverlust… das ist so ähnlich, wie wenn man sich verwählt und plötzlich eine müde Stimme vom anderen Ende der Welt verzögert antwortet, weil aus dem Tiefschlaf einer anderen Zeitzone gerissen. Es gibt vertane Chancen. Die bereut man oft und wünscht sich vielleicht vergangene Zeiten zurück, um das zu verändern? Also, ich nicht. Aber ich kenne viele Menschen. Und ehrlich gesagt, auch viele solcher Situationen, die einst mal eine Chance waren.

Was also sagt unsere Sprache über die Auffassung eines doch so schönen Zustands, Umstands aus? Verlieben… ist eine Irrfahrt? – Dann wären wir ja hoffnungslos ausgeliefert. – Wäre das so schlimm? Ist es ein Hinweis darauf, dass wir uns selbst nicht vertrauen? Oder gar der Liebe? Huch… vertrauen? …da war jemand beim Erfinden der Sprache entweder übereifrig… oder trauen wir nichtmal dem Trauen? Verlieben, vertrauen… da gibt’s offenbar eine ganze Sammlung von möglichen Irritationen. – Und dennoch würde ich mal ganz scharf darauf tippen, dass mindestens 99 von 100 Befragten das Gefühl „verlieben“ ganz toll finden und in ihrem Leben wohl nicht missen möchten. Unordnung und Kontrollverlust im wohlgeordneten Gefühlshaushalt werden da plötzlich gern in Kauf genommen – verspricht (hoppla?!) das Gefühl des Verliebens doch wunderschöne Aussichten und zeigt mit weit ausgestrecktem Arm in eine bunte Zukunft in Zweisamkeit.

Was sagen Duden und Wiktionary dazu? Zwischen Venusmuschel und Vera steht „ver-“. Präfix, Vorsilbe. Und diese

drückt in Bildungen mit Substantiven oder Adjektiven und einer Endung aus, dass sich eine Person oder Sache [im Laufe der Zeit] zu etwas hin verändert

Bedeutungen: eine Vorsilbe, die das
[1] das betreffende Wort als negativ oder schwierig markiert
[2] die Bewegung eines Objekts markiert
[3] bestimmt, dass eine Sache mit etwas versehen wird
[4] Veränderung bis hin zur Zerstörung beschreibt
[5] Fehlverhalten beschreibt
[6] bestimmt, dass eine starke, schwer rückgängig zu machende Änderung auf den körperlichen oder seelischen Zustand von jemandem oder etwas einen starken Einfluss ausübt

„ver-“ ist laut No. 1 negativ oder schwierig… das wird’s, wenn die Liebe nicht erwidert wird – und fortschreitend in No. 4 vielleicht bis zur Zerstörung der Illusionen reicht.
Die No. 5 fällt aus, das fühlt sich so gar nicht falsch an.
No. 6 passt doch: eine starke Änderung auf den körperlichen oder seelischen Zustand. Aber hallo! Das kann wohl jeder bestätigen, der grad verliebt ist. Alle anderen: mal kurz zurück erinnern, danke! Und ja, das ist schwer bis eigentlich gar nicht rückgängig zu machen. Menschen, in die wir uns verlieben, werden irgendwie immer ein mehr oder minder großer Teil von uns sein. Auch wenn sich die Liebe verändert über die Zeit oder gar nicht mehr im aktuellen Dasein vorhanden ist.

Und was sagt man in anderen Sprachen? Im Englischen fällt man in die Liebe mit „falling in love“. Offenbar unkontrolliert. Aber genau das ist es ja auch. Die Liebe kommt um die Ecke gebogen, meist wenn man es nicht erwartet oder sie findet einen an Orten, wo man noch nie hingeschaut hat. Mit „tomber amoureux(-euse)“ im Französischen stürzt man sich gar hinein. Im Italienischen „innamorato /-a“ steckt man offenbar sogar schon mitten drin in der Liebe – gleich von Anfang an.

Beim Blättern stoße ich noch auf andere „ver’s“: vergolden zum Beispiel. Ach, das klingt doch gleich viel wärmer. Oder verschmelzen – mmh, damit kann ich mich anfreunden, erst verlieben und im nächsten Schritt verschmelzen. Im besten Fall zu einer Einheit aus zwei Individuen, die sich getraut haben, sich dem unkontrollierten Gefühl hinzugeben und sich fallen zu lassen, hinein zu stürzen und einfach ganz darin zu sein und sich neu zu entfalten; sozusagen sprachlich halb Europa verbinden.

Ich bin langsam versöhnt mit dem „ver-“ – es kommt wie immer auf den eigenen Fokus an: versäumen, verwaschen, verspielen, versalzen…

oder vielleicht eher doch verstehen, vergeben, vereinigen, verzeihen, verzaubern, verweben, verreisen, verbunden fühlen… verquatschen…

ganze Nächte zum Beispiel, weil man sich verliebt und Schlaf sowieso völlig überbewertet wird und alles so neu und verlockend ist und zwei Menschen da so Stück für Stück verschmelzen.

2 Kommentare

  • Elmar Koritzius

    Liebe Anja, ich kenne kaum einen Menschen,der sich so gedankenvoll mit dem Thema Verlieben befasst wie Du. Das beinhaltet keinerlei Kritik sondern lässt mich verstehen ,dass Du ein sehr sinniger Mensch warst und bist. L.G von der Insel Amrum Elmar

    • Holiday

      Lieber Elmar, ganz herzlichen Dank für Deine Worte! Ich freue mich, dass Dir der Artikel so gut gefallen hat. Das ist eine schöne Motivation, immer weiter zu schreiben. Grüß mir das Meer in das Inselchen, bitte! Ich hoffe, bald mal wieder da zu sein… vielleicht trinken wir dann einen Tee? – Anja

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