Venezia im Winter 2019 Acqua Alta an der Ponte Widmann
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Alltag – Frische-Kur für ein Wort

Erstaunlich mild ist es an diesem Novembermorgen. So früh, dass es noch dunkel ist und die Regentropfen nur durch ihr sanftes Geräusch auf dem Asphalt da unten zu erahnen sind. Sehen kann ich sie nicht, aber sie riechen angenehm frisch. Irgendwie riecht heute Morgen alles nach Seeluft. Oft geht damit die Sehnsucht nach dem Meer durch meine Sinne. Heute ist es ein zufriedenes kleines Lächeln über meiner Kaffeetasse. Wärmend liegt sie zwischen meinen Fingern. Meine Gedanken sind zwischen heute und in-zwei-Wochen, bewegen sich zwischen dem Hier und dem Ort, der dann für längere Zeit mein „Hier“ sein wird. Wie oft gehen meine Gedanken und Sehnsüchte zu dieser Stadt.

Venezia – meine Herzensstadt.

Canal Grande von der  Ponte Accademia gesehen - Venezia

Seit ich vor einigen Jahren zum ersten Mal dort ankam und das Gefühl hatte, nicht einen neuen Ort zu erkunden, sondern wahrhaft nach Hause zu kommen, endlich wieder da zu sein, seitdem hat sie mich nicht mehr losgelassen.

Zunächst denkt man bei solchen Emotionen an sommerliche Urlaubsgefühle. Wie einfach ist es, einen Ort zu lieben, der so fern ist vom Alltag, vom Briefkasten mit den Rechnungen, der Arbeit und dem oftmals eher grauen Himmel über Berlin selbst im Sommer. Und dann breitet sich das Wunder einer Stadt vor den Augen und dem Herzen aus, die weder zu schwimmen noch zu schweben scheint, die sich majestätisch und doch so zaghaft und zerbrechlich aus der Lagune emporhebt, streckt und ihre Jahrhunderte alten Paläste und Brücken zwischen Stolz und Trotz präsentiert wie zarte Köstlichkeiten in einer Pralinenschachtel. Wie sollte man nicht spontan mindestens verzaubert sein von so viel Anmut und Wunder?

Die meisten Menschen sind von Venezia begeistert, so meine persönliche Statistik, die anderen immerhin überfordert.

Ja, Faszination und Urlaubsgefühle. So hoffte ich noch lange nach meiner Rückkehr. Aber mein Herz wusste längst, was es wirklich war. Es wusste um die Liebe zu diesem Ort noch während meines allerersten Ankommens und offenbarte diese in jedem Blick auf die Seltsamkeiten und Schönheiten. Und so plante ich, was unmöglich schien: einen ganzen Sommer in Venezia. Vor fünf Jahren befühlte ich den Schlüssel in der

Tasche, stieg mit dem großen Dufflebag vom Schiff und als ich den istrischen Marmor durch meine Pantoletten spürte, ging ein unfassbares Gefühl durch meinen Körper. Ein Kribbeln, eine Woge der Überwältigung. Pures Glück.

Und nun, in zwei Wochen, werde ich wieder dort sein für eine lange Zeit. Viele Male bin ich nach Venezia gereist in den letzten Jahren. Das Gefühl hat sich verändert. Nie war es ein Urlaubsort für mich. Es war „nach Hause kommen“, wenn die Türme der Stadt über der Lagune auftauchten. Das Wissen darum, wie es hinter den Mauern aussieht. Eine Weile hegte ich die Vermutung, das Gefühl würde sich

Venezia im Winter 2019 bei Acqua Alta - Cannaregio, Venezia

irgendwann verändern. Vielleicht würde es langweilig werden, die immer gleichen Wege zu gehen und immer wieder… nein, wurde es nicht. Auch nachdem ich im Winter 2019 zufällig während des „Acqua Grande“ mitten im viel zu hohen Hochwasser in einer komplett überfluteten Stadt bis zum Bauch im Wasser stand vor meiner Haustür, auch da änderte sich nichts. Außer dass ich wusste, hier gehöre ich her. Wundersam, ja.

Und nun: noch zwei Wochen. Bewegung zwischen Vorbereitungen, Erledigungen und To-Do-Listen. So viele Dinge zu tun, an so viel zu denken, noch zu organisieren. Es sind wahrhaft neue Wege. Kein Urlaub, es ist Arbeitszeit. Neue Wege als Autorin, Betrachterin durch die Kameralinse, Berichterstatterin in geschriebenen und gesprochenen Worten.

Beginnender Alltag am Ort meiner Träume liegt vor mir. – Sollte nicht „Alltag“ so definiert werden?

Alltag. Wir verknüpfen damit Negativität. Wenn wir von Alltag sprechen, schwingen eingefahrene Muster, Langeweile, Ödnis und innerliches Grau mit. Wir sprechen davon, dass Beziehungen frisch gehalten werden sollen, damit die Liebe nicht im Alltag untergeht. Wir sprechen vom Büro-Alltag und meinen damit, dass wir unsere Jobs nicht mögen oder zumindest, dass sie uns nicht erfüllen oder ein Chef oder eine Kollegin uns stresst. – Echt?!

Sottoportego in San Polo, Venezia

Sollte unser Alltag, also „alle Tage unseres Lebens“ nicht davon geprägt sein, dass wir sie leben? Die Tage mit Leben füllen, die uns gegeben sind. Und unser Dasein täglich füllen lassen mit dem Reichtum an Leben, den das Leben tatsächlich bietet?

Wie oft sind wir gefangen in einer Falle aus Sorgen, Nöten und Gedanken an Mangel und Kummer. Es wird immer Trauriges geben, dass uns erschüttert – Verlust geliebter Menschen zum Beispiel – aber sollte nicht – spätestens – gerade ihr Weggang uns daran erinnern, dass wir noch am Leben sind? Sollten wir uns nicht täglich daran erinnern, dass wir es wahrhaft leben? Also, sollten wir das Wort „Alltag“ vielleicht einer persönlichen Frische-Kur unterziehen?

 

Mut. Es braucht gehörig viel davon, um gewohnte Strukturen regelrecht aufzubrechen und sich Neuem anzuvertrauen. Das Loslassen fällt schwer, weil wir oft nicht wissen, ob uns etwas festhält oder wir uns daran klammern. Aber lauschen wir unseren wahren Bedürfnissen und Wünschen, ist der erste Schritt bereits gegangen. Sie werden dann nicht wieder verschwinden. Freude an der Veränderung entwickelt sich, wenn wir sie pflegen – die Freude und die Veränderung. Dann können wir auch Träumereien von echten Bedürfnissen unterscheiden lernen und Mut von Leichtfertigkeit. Es braucht Zeit. Aber bereits dieses neue Denken und Erspüren sind Schritte aus der alten Definition von „Alltag“.

Vielen Menschen im Umfeld wird diese neue Version von uns vermutlich nicht gefallen. Schmerzhaft. Aber auch ein Teil des Wandels, des Loslassens. Manches lassen wir los. Manchmal lassen andere uns los. Nicht einfach, das zu verstehen und anzunehmen.

Und dennoch ist es wie das Aufräumen im Keller. Was mit Gerümpel vollgestopft ist, bietet weder Überblick über die möglicherweise darin verborgenen Schätze noch die Möglichkeit, lieb gewonnenes unterzustellen oder gar zu schützen. Entrümpeln macht frei, im wahrsten Sinne, im Keller und im Leben. Es schafft Raum für Neues.

Alte Erinnerungen an Schönes werden immer schön bleiben.

Wir können sie einfach loslassen, sie sind nicht weg, sie bleiben uns. Aber wir lösen uns von der Vergangenheit und machen Platz für die Zukunft und vor allem für die Wahrnehmung des alltäglich (!) stattfindenden Lebens.

Alte Muster loslassen, schafft Raum für neues Denken und Handeln.

Venezia 2019 Acqua Alta in der Calle Venier

Menschen, die einen so nicht mehr mögen, sind nicht weg. Sie haben uns ein Stück unseres Weges belgeitet und wir sie. Gegenseitig haben wir uns gegeben, was wir konnten und brauchten füreinander und voneinander. Vielleicht treffen wir uns an einer anderen Weggabelung wieder und gehen weitere Schritte gemeinsam. Raum für neue Begegnungen eröffnet sich und für andere Menschen, mit denen wir neue Strecken unserer Wege teilen. Ebenso verhält es sich mit Möbeln, Kleidung, Hobbies und der  Arbeit. Was uns wahrhaft am Herzen liegt, darf bleiben und das wird es. Alles andere darf frei werden und uns befreien.

Das Wunder geschieht, wenn wir beginnen, uns zu trauen.

Wenn wir uns vorsichtig an erste Worte herantasten und uns nahen Menschen zaghaft anvertrauen. Stück für Stück werden wir durch Austausch, Zuspruch und neue Impulse mutiger, entschlossener und bisher ungedachte und ungeahnte Varianten, Möglichkeiten eröffnen sich. Die Frische-Kur für den Alltag nimmt Fahrt auf. Irgendwann schmelzen selbst die größten Hürden dahin. Sie sind tatsächlich erdachte Hürden! Sogar Behörden werden nicht zu Bremsklötzen, sondern zu Unterstützern.

Hindernisse bestehen allzu oft aus Ängsten.

Wagen wir uns, diese anzutasten, können wir herausfinden, wie weit wir gefahrlos gehen dürfen, wo wir Unterstützung finden, wer uns Hilfestellungen ermöglicht.

Venezia im Winter 2019, Milan Bar in Cannaregio

Und so stehe ich heute Morgen in dieser frischen Luft, in dieser Milde. Langsam schwindet die Dunkelheit und macht dem Tageslicht Platz. Mich gelüstet es nach einem zweiten Kaffee. In zwei Wochen um diese Uhrzeit steige ich aus einem Zug und werde einen großen Koffer aus dem Bahnhof Santa Lucia rollen zur Vaporetto-Station, um mit dem Bus-Boot die Windungen des Canal Grande zu „meiner Haltestelle“ für die kommenden Monate zu gondeln. Es kribbelt in mir bei diesem Gedanken. Die Kur für meine Definition von „Alltag“ hat längst begonnen und erweist sich als heilsam.

Seit einiger Zeit schwingt ein Gedanke mit: jetzt passt alles zusammen.

Wie oft wünschen wir uns nicht sehnlichst, etwas möge so und so geschehen oder trauern einer verlorenen Beziehung nach, einem Job oder Auftrag, den wir nicht bekommen haben, grübeln über vermeintlich verpasste Chance oder Gelegenheiten. Manchmal hängen wir im Traum-Modus etwas Vergangenem nach, das so nie eintraf. Aber wenn ich über die vor mir liegende Zeit nachdenke, dann eröffnet sich nur eines: jetzt passt es zusammen!

Wieder einmal geht eine neue Version von mir in eine neue Zeit. Der Wandel umgibt mich – oder bin ich mein Wandel? Ist es ein Mantel oder ein Teil meiner selbst?

Vermutlich ist genau das ein Teil der Essenz des Lebens. Diese stetige Bewegung. Nichts ist statisch… Wellen, Wind, Pflanzen… alles ist in Bewegung; der ganze Planet und wiederum dieser in einem gigantischen und unfassbaren System. Warum also streben wir immer und immer wieder nach dem Erreichen von etwas Endlichem, Statischem? Fahren wir nicht besser , wenn wir uns der Bewegung hingeben und diese als gegebene Notwendigkeit einfach annehmen? Dann gibt es kein Ziel mehr, bestenfalls noch Etappen. Vielleicht würde uns vieles so viel leichter fallen, wenn wir uns davon lösten, permanent alles definieren zu wollen.

Das Leben ist unfassbar, so wie die Welt; und unfassbar schön.

 


…und das waren die Gedanken vor dem ersten großen Venezia-Abenteuer vor fünf Jahren aus meiner Feder: Mehr als eine Reise

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